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Letzte Messe an der Tagebau-Kante: Das Dorf Otzenrath verschwindet

Bildquelle: ©Adobe Stock / Text: dpa

Otzenrath (dpa) - Die erhabene Kirche steht in einer Wüstenei. Wo einst der Dorfkern von Otzenrath war, stehen vereinzelte Häuser - teilweise abgerissen, demontiert. Bäume, Strauchwerk und anderes Grünzeug sind nur noch aufgetürmter grober Schredder. Kaum ein Tag ist vergangen, an dem Ludwig Schöpgens nicht durch sein altes Dorf gefahren ist. Er hat gesehen, wie es immer ein Stückchen mehr verschwand. Er hat gesehen, wie sein altes Haus eingerissen wurde. Jetzt kommt die Kirche dran. Das tut ihm richtig weh.

Otzenrath bei Jüchen (Kreis Neuss) ist der erste Ort, der wegen des umstrittenen Braunkohlentagebaus Garzweiler II von der Landkarte verschwindet. Rund 1700 Menschen mussten ihr Dorf verlassen. Von ihnen siedelten 80 Prozent an den neuen Standort um, wenige Kilometer entfernt. RWE Power sticht nun am kommenden Wochenende das Braunkohlenfeld Garzweiler II an. Diesen Sonntag (18.6.) nehmen die Otzenrather Abschied von ihrer katholischen Kirche St. Simon und Judas Thaddäus. Es ist das Ende von Alt-Otzenrath. Die Kirche wird abgerissen.

"Wenn man nicht mehr in die Kirche gehen kann, dann hat man die Heimat ganz verloren", sagt der 65-jährige Pfarrgemeinderat Schöpgens. Er ist einer der Menschen, die sich seit Jahren intensiv um die Kirche kümmern, seitdem kein Pfarrer mehr da ist. Einen Augenblick ringt er um Fassung. Die stattliche, 136 Jahre alte Backsteinkirche wird zu klein sein, um alle Menschen beim Abschiedsgottesdienst zu fassen.

Schon einen Tag später räumen die Otzenrather die Kirche - wegen drohender Plünderei. Den Holzaltar nehmen sie an ihren neuen Ort mit. "Wenn wir den nicht mitnehmen könnten, hätten wir Blessuren davongetragen", macht der Mann deutlich, wie sehr der Altar den Dorfbewohnern am Herzen liegt.

Er geht um ein bisschen Heimat am neuen Standort - auch wenn die neue Kapelle dafür viel zu klein und modern ist. Die alten hölzernen Kirchenbänke werden kürzer gemacht, damit sie in die neue Kapelle passen. "Es gab Interessenten für die Kirchenbänke. Aber wir können uns nicht vorstellen, dass die dann vielleicht mal irgendwo in einer Kellerkneipe stehen", sagt Schöpgens.

Keine Lösung gibt es für die schmalen hohen Kirchenfenster. Der Ausbau der Bleifenster ist aufwendig und kompliziert. Es gibt keinen Platz zum Lagern. Ein Problem ist auch die Pfeifenorgel. Vor Weihnachten wurde sie noch einmal gestimmt. "Das ist ein schönes Instrument. Mir wäre es am liebsten, wenn sie weiter gespielt wird", sagt er. Aber bisher hat sich noch keine Pfarrgemeinde gefunden, die die Orgel übernehmen möchte. Und die Uhr tickt, bis die Abrissbagger kommen.

Der Privatmann Schöpgens hat vor zwei Jahren selbst erlebt, wie schnell ein Haus zerlegt wird. Nach dem Umzug in sein neues Heim hatte er um 11.00 Uhr den Schlüssel seines altes Hauses abgegeben. Nur Stunden später waren Arbeiter mit der Demontage noch brauchbarer Dinge wie Heizkörper beschäftigt.

Es steht noch nicht fest, wann genau die Kirche abgerissen wird. Bei dem Abschiedsgottesdienst wird der Bau "entwidmet", er wird dem weltlichen Gebrauch zurückgegeben. Dazu wird ein Dekret des Aachener Bischofs Heinrich Mussinghoff verlesen. Die Kerzen und das "Ewige Licht" werden gelöscht und der Tabernakel entfernt. Schöpgens weiß nicht, ob er dabei sein will, wenn die Bagger kommen und das Mauerwerk einreißen. "Es kommt darauf an, in welcher Gemütsverfassung ich bin."