Bristol/Kassel (dpa) - Die Windmühlen tauchen ab: Mit Windenergietechnik wollen Forscher künftig unter der Meeresoberfläche ein gigantisches Energiepotenzial erschliessen, das in den Gezeitenströmungen schlummert. Rund fünf Prozent des Weltenergiebedarfs liessen sich nach Daten des Forschungsverbunds Sonnenenergie durch verschiedene Formen der Meeresenergie decken. Vor der Westküste Grossbritanniens geht an diesem Montag der weltweit erste Prototyp eines Unterwasser-Rotors offiziell in Betrieb.
Die "Seaflow"-Anlage im Bristol Channel, rund zwei Kilometer vor der Küste von Devon, erinnert an ein auf dem Kopf stehendes
Windrad. Im 20 Meter tiefen Wasser kreist ein 11 Meter grosser Rotor gemächlich mit 15 Umdrehungen pro Minute in der Strömung der Gezeiten. Sichtbar sind je nach Wasserstand nur die oberen 5 bis 10 Meter des Turms.
Anders als bisherige
Wasserkraftanlagen, bei denen sich die Turbinen in der Regel in einem geschlossenen Rohr drehen, steht der "Seaflow"-Rotor frei - der Bau von Stauanlagen entfällt. Ohne die Fortschritte in der Nutzung der
Windenergie wäre dies so nicht möglich gewesen, betont Jochen Bard vom Institut für Solare Energieversorgungstechnik (ISET) in Kassel. Das Institut ist an dem sechs Millionen Euro teuren, von der britischen und der deutschen Regierung sowie der EU geförderten Gemeinschaftsprojekt beteiligt.
Das ISET sieht in den gezeitengetriebenen Meeresrotoren eine ideale Ergänzung zu Sonnen- und Windkraft. Vorteile: Die Unterwasser- Mühlen sind wetterunabhängig und ihr Ertrag lässt sich gut vorausberechnen, wie Bard betont. "Solange sich die Erde dreht und der Mond sie umkreist, ist diese
Energie sicher."
Die Technik ist vor allem für Länder mit langer Küste interessant. Grossbritannien beispielsweise könnte nach Schätzung der britischen "Seaflow"-Betreiberfirma Marine Current Turbines (MCT) 20 bis 30 Prozent seines Strombedarfs mit der "Seaflow"-Technik decken. Der Prototyp kommt auf eine Leistung von rund 300 Kilowatt, spätere Anlagen sollen jedoch ein Megawatt pro Rotor erzeugen. Europaweit liessen sich damit an mehr als 100 geeigneten Standorten 12.500 Megawatt
Strom erzeugen - etwa so viel wie in zwölf Kernkraftwerken.
In den nächsten fünf Jahren soll aus dem Pilotprojekt eine kommerzielle Technik werden. Die Kilowattstunde Strom aus dem Meer werde voraussichtlich 5 bis 10 Cent kosten. "Nicht unschlagbar billig, aber auch nicht so teuer, dass die Weiterentwicklung der Technik aussichtslos wäre", betont Bard. Konventionelle Kraftwerke erzeugten die Kilowattstunde für etwa 3 Cent, Solarzellen dagegen für rund 50 Cent. "Die Energieversorgung der Zukunft beruht realistischerweise auf einem Mix erneuerbarer Quellen", erläutert Bard.
Auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace sieht in der Meeresenergie einen wichtigen Baustein für den Energiemix der Zukunft. "Seaflow" sei "die logische Weiterführung der Idee der Windenergienutzung", urteilt Sven Teske, Energieexperte von Greenpeace Deutschland. Vor allem für den Nordatlantik sei die Technik interessant.
Durch die deutlich höhere Energiedichte im strömenden Wasser im Vergleich zur viel leichteren Luft, können bereits kleinere Anlagen dieselbe Menge Strom produzieren wie grosse Windräder. Während ein Windrad für die Erzeugung eines Megawatts etwa 55 Meter messen muss, reicht unter Wasser bereits ein rund 20 Meter grosser Rotor. Dieser Vorteil birgt Teske zufolge allerdings auch eine mögliche Gefahr für Meerestiere: Die Rotorblätter einer Ein-Megawatt-Anlage schneiden nach seinen Worten mit der Kraft von zehn Sportwagen durchs Wasser. "Die möglichen Auswirkungen auf das Unterwasserleben müssen untersucht werden", betont Teske. Speziell müsse sichergestellt werden, dass sich Meeressäuger wie Wale und Robben nicht verletzten.