Merkel: "Atomausstieg mit Augenmaß"
Stand: 17.03.2011
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Berlin - In einer Regierungserklärung im Bundestag hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Kehrtwende in der Atompolitik gegen Kritiker verteidigt. Als Begründung für das vorläufige Abschalten der sieben ältesten deutschen Meiler führte Merkel den Schutz der Bevölkerung an. Trotz der Atomkatastrophe in Japan möchte sie grundsätzlich an der Atomkraft als Brückentechnologie festhalten, der Ausbau erneuerbarer Energien soll jedoch beschleunigt werden. Die Opposition warf ihr Unglaubwürdigkeit und Rechtsbruch vor.
Mit 308 von 331 möglichen Koalitionsstimmen erhielt ein Antrag von Union und FDP im Bundestag eine Mehrheit, mit dem das dreimonatige Moratorium begrüßt und die vorläufige Abschaltung der sieben ältesten Meiler in dieser Zeit zustimmend zur Kenntnis genommen wird.
Kein sofortiger Verzicht auf Kernkraft
"Was wir brauchen, ist ein Ausstieg mit Augenmaß", sagte Merkel in ihrer mehrfach von Zwischenrufen unterbrochenen Rede. Weitergehenden Forderungen der Opposition hielt sie entgegen, ein Industrieland wie Deutschland könne nicht sofort auf Kernkraft verzichten. "Wir wissen, wie sicher unsere Kernkraftwerke sind. Sie gehören zu den weltweit sichersten", sagte Merkel. "Wir brauchen eine Brückentechnologie wie die Kernenergie." Sie lehne es ab, die Atomkraftwerke abzuschalten, aber dann Strom aus Meilern anderer Länder zu beziehen. Auch müsse Energie bezahlbar sein.
Zugleich betonte sie: "Es gilt der Grundsatz: Im Zweifel für die Sicherheit." Sie sagte: "Wenn in einem so hoch entwickelten Land wie Japan das scheinbar Unmögliche möglich (...) wurde, dann verändert das die Lage." Merkel ließ offen, ob alle betroffenen Kraftwerke für immer abgeschaltet bleiben. Möglicherweise würden Anlagen schneller vom Netz genommen. Zum rot-grünen Atomausstieg kehre die Koalition aber nicht zurück. FDP-Fraktionschefin Birgit Homburger wandte sich gegen ein "hektisches Überbordwerfen aller Entscheidungen".
"Keine Deals mit der Atomwirtschaft"
Merkel wie Vorwürfe nach Absprachen mit der Atomwirtschaft zurück. "Dies ist kein Deal." Der Energiekonzern E.ON versicherte, er wolle nicht auf Konfrontationskurs zur Regierung gehen. "Sobald uns eine Anordnung zur vorübergehenden Aussetzung des Leistungsbetriebs der Kernkraftwerke Isar I und Unterweser vorliegt, werden wir danach handeln", sagte ein Sprecher. Die "Süddeutschen Zeitung" hatte berichtet, E.ON erwäge eine Klage.
Abschaltung von Isar I und Unterweser
Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) ordnete die Abschaltung von Isar I zunächst während des Moratoriums an. Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister (CDU) gab den Schritt für das AKW Unterweser bekannt. Der Energiekonzern EnBW schaltete in der Nacht zum Donnerstag Neckarwestheim I und Philippsburg ab und folgte damit den Anordnungen des Umweltministeriums in Baden-Württemberg.
SPD-Chef Gabriel hielt Merkel eine bisher hartnäckige Verweigerung der Abschaltung alter Meiler vor. Sie selbst habe sich gegenüber Gabriel als Umweltminister der schwarz-roten Koalition für Biblis A und Neckarwestheim I eingesetzt. "Sie haben mich schriftlich dazu aufgefordert, die Laufzeiten dieser beiden Atomkraftwerke zu verlängern." Im Herbst dann habe Merkel mit den Atomkonzernen die Laufzeitverlängerung ausgehandelt. "Sie persönlich haben Sicherheit gegen Geld getauscht."
Streit um das Atom-Moratorium
Linke-Fraktionschef Gregor Gysi sagte: "Der 11. März 2011 muss das Ende des nuklearen Industriezeitalters eingeläutet haben." Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin warnte vor Folgen des Moratoriums: "Wenn die Betreiber der Altkraftwerke (...) Laufzeiten auf die neueren Anlagen übertragen, dann reden wir von Laufzeiten bis 2050."
Merkel verteidigte die juristische Seite des Moratoriums und berief sich auf einen Paragrafen im Atomgesetz, der die Abschaltung bei Gefahrenverdacht regelt. Der Würzburger Rechtsprofessors Kyrill-Alexander Schwarz hält diese Rechtsbasis für unzureichend. "Paragraf 19 Absatz 3 Ziffer 3 reicht definitiv nicht aus", sagte er der dpa.
Die Regierung will "so schnell wie möglich das Zeitalter der erneuerbaren Energien erreichen", wie Merkel versicherte. Sie forderte einen schnelleren Stromnetzausbau. Noch vor Ostern sei ein Treffen mit allen Ministerpräsidenten geplant. Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) plädierte für massiven Ausbau der Windenergie.
Solidarität mit Japan
Die Kanzlerin sprach den Menschen in Japan nach dem Erdbeben und dem Tsunami ihre Anteilnahme aus, versprach Hilfe und unterstützte Spendenaufrufe. "Die Katastrophe in Japan hat ein geradezu apokalyptisches Ausmaß." Nun gehe es um das Zeichen an die Menschen in Japan: "Sie sind nicht allein."
Merkel sieht derzeit keine drastischen konjunkturellen Folgen: "Ich befürchte derzeit nicht, dass die Weltwirtschaft signifikant beeinträchtigt wird." Gesundheitliche Beeinträchtigungen durch Radioaktivität in Japan seien nach menschlichem Ermessen in Deutschland nicht zu erwarten.
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