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Kohle statt Atom: Wissenschaftler uneinig über "Kaltreserve"

Bildquelle: ©Adobe Stock / Text: dapd

Berlin - Der Bundestag hat den Ausstieg aus der Atomkraft beschlossen, der Ökostrom ist jedoch noch nicht so weit. Als Ersatz für die bereits vom Netz gegangenen acht Kernkraftwerke werden deshalb alte Kohlemeiler wieder angefeuert, die Schlote rauchen. Außerdem sollen allein bis 2013 neue fossile Kraftwerke mit einer Gesamtleistung von zehn Gigawatt fertiggestellt werden, bis 2020 sollen noch einmal so viele werden. Skeptiker fragen bereits, ob das alles überhaupt genügt -  und was beim Einsatz von so viel Kohle und Gas aus den deutschen Klimazielen werden soll.

Tatsächlich sieht die Bundesnetzagentur als zuständige Behörde erhebliche Unsicherheit, ob nach dem plötzlichen Aus für die Hälfte der Atomreaktoren derzeit genügend Kraftwerke bereit stehen, um den Energiehunger zu Spitzenzeiten im Winter zu stillen. Erwogen wird deshalb, ein abgeschaltetes Atomkraftwerk als "Kaltreserve" auf Standby zu halten. Atomkritische Wissenschaftler und das Umweltbundesamt halten jedoch dagegen: Die Kapazität reiche und das Klima müsse auch keinen Schaden nehmen.

Experten nennen unterschiedliche Zahlen

Dabei argumentieren die Experten teilweise mit recht unterschiedlichen Zahlen. Unstrittig ist, dass die 17 deutschen Atomkraftwerke eine Gesamtleistung von netto rund 20,5 Gigawatt (20.500 Megawatt) liefern konnten. Mit der sofortigen Stilllegung der sieben ältesten Reaktoren und des Pannenmeilers Krümmel fallen 8,4 Gigawatt weg.

Das Umweltbundesamt argumentiert, das sei nicht schlimm, denn gleichzeitig gebe es "überschüssige Reservekapazitäten von rund zehn Gigawatt Leistung". Das Vorhalten von Atomkraftwerken als Kaltreserve sei somit nicht nötig, schreiben die Experten in einer Analyse zum Atomausstieg.

Die UBA-Experten beziehen sich bei ihrer Rechnung der Reservekapazität auf die gesamte installierte Leistung abzüglich jener Kraftwerke, die in Revision sind oder nicht genutzt werden können. "Die Differenz aus der gesicherten Leistung und der Jahreshöchstlast ergibt die verbleibende Leistung", heißt es in dem Papier. Es handelt sich also um eine rechnerische Größe.

Die "Kaltreserve" beziffert das UBA auf 1,6 Gigawatt. Gemeint sind meist sehr alte, ineffiziente Kraftwerke, die eingemottet, aber nicht abgebaut werden - in der Hoffnung, dass sich der Betrieb bei steigendem Strompreis doch noch lohnt.

Bundesnetzagentur bangt um Kaltreserve

Die Bundesnetzagentur geht bei ihrer Analyse überschüssiger Kapazitäten anders vor und kommt damit auf ganz andere Ergebnisse: Mit einer Umfrage bei den großen Energieversorgern ermittelte sie nur 520 Megawatt Kaltreserve, wie eine Sprecherin sagt. Doch hält die Behörde mindestens 1.000 Megawatt für nötig. Bis August will die Behörde deshalb prüfen, ob für die kommenden beiden Winter doch noch einer der alten Atomreaktoren für den Notfall bereit stehen soll.

Ob nun ein Reaktor vorgehalten wird oder nicht - klar ist, dass die übrigen vorhandenen Kraftwerke in Spitzenzeiten ziemlich nah am Anschlag laufen müssen, um die Atomlücke zu schließen. Und darunter sind ausweislich der Kraftwerksdatenbank beim Umweltbundesamt auch noch Uraltdreckschleudern aus den 50er und 60er Jahren.

Risiken für den Klimaschutz?

"Kritiker werden nun argumentieren, dass durch den Ersatz der Restlaufzeiten der deutschen Kernkraftwerke durch alte Kohle- und Gaskraftwerke zusätzliche klimaschädliche CO2-Emissionen verursacht werden", heißt es denn auch in einer Expertise des Flensburger Wirtschaftswissenschaftlers Olav Hohmeyer. "Dies ist ein durchaus ernst zu nehmender Einwand."

Dennoch hält Hohmeyer die Nachteile für den Klimaschutz für beherrschbar. Der vorübergehende Anstieg des Treibhausgases CO2 lasse sich in wenigen Jahren überkompensieren, wenn konsequent auf einen raschen Ausbau von Ökostrom gesetzt werde. Er hält eine Komplettversorgung mit Erneuerbaren schon 2030 für möglich.

Auch das Umweltbundesamt sieht trotz der Kohle- und Gas-Renaissance "keine negativen Auswirkungen auf den Klimaschutz" und das deutsche Ziel, den Treibhausgasausstoß bis 2020 um 40 Prozent unter den Wert von 1990 zu drücken. Nur argumentiert das UBA anders: Der Emissionshandel deckele den Ausstoß aus Kraftwerken - ob nun mit Atomausstieg oder ohne.

"Damit wird ein erhöhter CO2-Ausstoß durch die Kohleverstromung an anderer Stelle durch CO2-Emissionsminderungen eingespart", schreiben die Experten. Denn mit den Emissionen steige auch der Preis für Zertifikate, und das wiederum gebe einen Anreiz für mehr Klimaschutz.