Kann Deutschland alleine mit Ökostrom auskommen?
Stand: 19.08.2010
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Berlin - Die Bundesregierung sitzt zwischen den Stühlen: Die erneuerbaren Energien erfahren viel mehr und viel schneller Zuwachs als erwartet. Deshalb halten Umweltexperten die längeren Atom-Laufzeiten teilweise für überflüssig. Wenn in Deutschland zu viel Strom erzeugt wird, könnte jedoch ausgerechnet die Vorfahrt für Ökostrom kippen.
Hans-Josef Fell malt mit dem Finger eine schnell ansteigende Kurve auf das Blatt Papier. "Wir sind jetzt am Turning- Point" (Wendepunkt), sagt der Grünen-Abgeordnete. Er ist der Kopf hinter dem vor zehn Jahren beschlossenen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG). Es hat den Weg für den Boom beim Ökostrom geebnet. "Jetzt sehen die Gegner ihre letzte Chance, den Boom zu zerstören. Gelingt es ihnen nicht, wird die Kurve steil nach oben gehen", sagt Fell. Mit den Gegnern meint er die Befürworter von längeren Atomlaufzeiten.
Die Debatte um das Energiekonzept der Bundesregierung sei zu einem Glaubenskrieg ausgeartet, stöhnt der Vertreter eines Energiekonzerns. Die zentralen Fragen lauten: Braucht Deutschland trotz eines von der Regierung prognostizierten 38,6-Prozent-Anteils der Öko-Energien an der Stromerzeugung bis 2020 weiter so viel Atom- und Kohlestrom? Oder geht es auch bald schon nur mit Ökostrom?
Kernenergie als Brücke
Als einer der wenigen Vertreter der Energiekonzerne gibt der Chef der Eneuerbaren-Sparte von RWE, Fritz Vahrenholt, nun 50 Prozent Öko-Stromanteil als konkretes Ziel bis 2050 aus. Ein 100-Prozent-Ziel sieht er angesichts fehlender Flächen für einen gewaltigen Ausbau der Windkraftanlagen in der Nordsee und der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Biomasse als Utopie an.
Deutschland braucht daher die Kernenergie weiter als Brücke ins erneuerbare Zeitalter, sagen Atomindustrie und Politiker wie Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU), Bayerns Ministerpräsident Horst Sehhofer (CSU) und Baden-Württembergs Regierungschef Stefan Mappus (CDU). Solar- und Windenergie seien zu schwankend, die gleiche Energiemenge liefernde Kraftwerke seien daher als Regulativ notwendig.
Umweltminister will moderaten Kompromiss
Bundesumweltminister Norbert Röttgen (CDU) ist vielen in der Union zu grün, er bekennt sich klar zur Umstellung auf die Erneuerbaren - er will trotz aller Widerstände versuchen, einen moderaten Kompromiss zu finden. Ende September soll Klarheit herrschen. Möglich ist, dass drei bis fünf ältere Atomkraftwerke schon 2011 abgeschaltet und deren Reststrommengen auf neuere Meiler übertragen werden, die dann weit über das Jahr 2030 hinaus laufen könnten.
Da die beiden CDU-Regierungschefs in Niedersachsen und Schleswig- Holstein, David McAllister und Peter Harry Carstensen, keine Freunde längerer Laufzeiten sind und lieber auf Windkraft setzen, könnte es zu einer Atom-Konzentration im Süden kommen.
Stromüberschuss könnte zum Problem werden
Fell und viele andere hoffen dagegen auf eine Zukunft mit 100 Prozent erneuerbaren Energien - am besten bereits bis 2030. Nicht nur Fell befürchtet, dass bei dem erwarteten Atom-Beschluss von Schwarz-Gelb schon bald zu viel Strom auf dem Markt sein könnte. Sobald der Beschluss für längere Laufzeiten unter Dach und Fach sei, würde deshalb zum Kampf gegen den Einspeisevorrang für Sonnen-, Wind oder Wasserenergie geblasen, befürchtet die Deutsche Umwelthilfe (DUH).
Bundesgeschäftsführer Rainer Baake sagt, sowohl-als-auch gehe nicht, sondern nur entweder-oder. Entscheidet sich Schwarz-Gelb wie erwartet für die erste Variante, sieht Baake ein energiepolitisches Chaos und "Verteilungskämpfe" heraufziehen. Er verweist auf einen Passus im Energiewirtschaftsgesetz, der es aus Gründen der Stromsicherheit erlaubt, Solar- oder Windkraftanlagen vom Netz zu nehmen. "Ein Atomkraftwerk kann man nicht morgens um 9 abschalten und um 3 Uhr am Nachmittag wieder hochfahren", so Baake.
Um bei weiter zunehmendem Öko-Stromanteilen die Funktionsfähigkeit von Atom-, aber auch Kohlekraftwerken zu gewährleisten, könnte daher dem ständigen Zuwachs bei Öko-Energien ein Riegel vorgeschoben werden, fürchtet die DUH. Der DUH-Geschäftsführer betont, er wolle nicht wissen, wie die Bürger in Bayern und Baden-Württemberg reagieren, wenn ihre teuren Photovoltaikanlagen abgeschaltet werden müssen, weil sich ihre Ministerpräsidenten so vehement für eine längere Zukunft der Atomenergie eingesetzt haben. Immer häufiger werden in jüngster Zeit auch die hohen Subventionen für die Erneuerbaren kritisiert. Das Klima wird rauer.
Ein Stromüberschuss-Szenario könnte in der Tat drohen. Projiziert man den heutigen Stromverbrauch und die Regierungszahlen für den erwarteten Öko-Energie-Ausbau bis 2020, kommen erstaunliche Berechnungen zustande, wie Carsten Pape vom Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik (IWES) jüngst in Berlin erläuterte. Demnach ist im Mai und Juni 2020 immer wieder mit Tagen zu rechnen, wo der Energiehunger nur mit Öko-Energien gedeckt werden kann - es werde sogar teilweise zu Öko-Strom-Überschüssen kommen.
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