Japan rafft sich langsam auf: Dekontaminierung soll beginnen
Stand: 01.12.2011
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Fukushima - Knapp neun Monate nach der Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Atomunfall kämpft Japan noch immer mit den Folgen. Langsam kommt das Land wieder auf die Beine. Verstrahlte Gebiete sollen nun dekontaminiert werden.
Die kargen Äste des Apfelbaumes ragen knöchern in den betongrauen Himmel über Fukushima. Um ihn herum steht ein gutes Dutzend Landwirte mit ernster Miene. Mit einem Mal dringt der Motorenlärm einer mobilen Hochdruckpumpe durch die Obstplantage. Ein Bauer mit weißem Mundschutz richtet die Sprühpistole von einer Leiter aus auf den Apfelbaum und spritzt vor laufender Kamera penibel den Stamm und jeden einzelnen Ast ab. "Es ist eine enorme Belastung für uns Bauern, aber wir müssen jetzt schnell die Felder dekontaminieren, damit wir unseren Verbrauchern sicheres Obst liefern können", erklärt einer der Landwirte den anwesenden Fernsehreportern. Wie hier in der Stadt Date, rund 50 Kilometer vom havarierten Kernkraft Fukushima Daiichi entfernt, haben auch Landwirte in Kunimi und Koori als erste in Fukushima damit begonnen, auf eigene Faust ihre landwirtschaftlichen Anbauflächen von Radioaktivität zu befreien.
Diszipliniert und mit enormem Durchhaltewillen haben die Menschen in den Katastrophengebieten im Nordosten des Landes ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, organisieren sich und packen an. Unterstützt von einer Heerschar junger Freiwilliger aus allen Teilen des Landes, die gleich nach Beginn der Katastrophe vom 11. März in die Unglücksregion Tohoku aufbrachen, um zu helfen. Seit der Alptraum an jenem Tag über das in Wohlstand lebende Inselreich hereinbrach, ein Erdbeben und Jahrhundert-Tsunami Tausende von Menschen in den Tod riss, unzähligen Bauern und Fischern die Lebensgrundlage zerstörte und das AKW Fukushima schwer beschädigte, ändere sich das "Bewusstsein der Japaner", meint der Politologe Minoru Morita.
Vertrauen in Regierung ist verloren
"Das jahrzehntelange Vertrauen in die Regierung und andere Autoritäten ist weitgehend verloren gegangen", so Morita. Das Volk habe erleben müssen, wie die Autoritäten anfangs versagten: Der inzwischen von der eigenen Partei gestürzte Premier Naoto Kan, der die wahre Gefahr im AKW verschwiegen habe. Der Atombetreiber Tepco, der keine verlässlichen Informationen lieferte. Und eine Bürokratie, mit der sich Kan und seine Demokraten einen Kleinkrieg lieferten und die die Regierung praktisch auflaufen ließ. Als Konsequenz aus diesen Erfahrungen wachse unter den Menschen erstmals seit dem verlorenen Zweiten Weltkrieg das Bewusstsein, "mit eigener Kraft und der Kraft der Gemeinschaft wieder auf die Beine zu kommen", sagt der Politologe Morita. Diese gemeinsame Erfahrung stelle für Japan einen "Wendepunkt" dar, der das Inselreich grundlegend verändern könnte.
Dass die Japaner aus den Trümmern von 3/11 wieder auf die Beine kommen wollen, ist allerorten zu beobachten. Wer heute durch die Unglücksgebiete reist, ist beeindruckt von den in den vergangenen Monaten geleisteten gewaltigen Aufräumarbeiten; wie Bauern ihre Felder trotz der allgegenwärtigen Strahlengefahr - dieser Tage wurden Reislieferungen aus Teilen Fukushimas verboten - nicht aufgeben. Wie Industriebetriebe die zerstörten Lieferketten zügig wieder schließen.
Notbehausungen winterfest machen
Wie junge Freiwillige den vielen Alten in den containerähnlichen Notbehausungen mit gespendeten Decken, Öfen und selbstgebauten Windfängen vor den Eingängen helfen, durch ihren ersten nun anbrechenden Winter zu kommen. Aber auch der Staat bemüht sich. Die Provinzen Miyagi, Iwate und Fukushima wollen nun Betreuungszentren einrichten, um Opfern der Erdbeben- und Tsunamikatastrophe psychologische Hilfe zukommen zu lassen. Im Januar, fast ein Jahr nach Beginn der Katastrophe, will die neue Regierung zudem mit der großflächigen Dekontaminierung der radioaktiv belasteten Gebiete beginnen.
Die Belastung für die Bürger in Gebieten mit Strahlenwerten von bis zu 20 Millisievert jährlich - dem Grenzwert für Evakuierungen - soll bis Sommer 2013 halbiert werden. Mit der Festlegung auf ein Datum will die Regierung den rund 160 000 Evakuierten einen Zeithorizont geben, um sich auf eine Rückkehr in ihre Heimat vorzubereiten und die derzeitige Ungewissheit zu beenden. Die abgetragene Erde sowie der Schutt sollen in Zwischenlager gebracht werden. Allerdings zögern noch viele Gemeinden im Lande, den Abraum aufzunehmen, aus Sorge vor den Strahlen, aber auch wegen der noch ungeklärten Frage der Endlagerung. Derweil halten die Regierung und der Betreiber Tepco an ihrem Zeitplan fest, bis Ende dieses Jahres die Reaktoren im AKW Fukushima Daiichi endgültig unter Kontrolle zu bringen. Anders jedoch als Deutschland, wo die Regierung Merkel den schlimmsten Atomunfall seit Tschernobyl zum Anlass nahm, den Atomausstieg zu beschleunigen, hält Japan vorerst am Atomstrom fest.
Zukunft der Kernenergie ungewiss
Zwar spricht sich der neue Premier Yoshihiko Noda für eine langfristige Reduzierung der Abhängigkeit von der Kernenergie sowie den Ausbau erneuerbarer Energien aus. Allerdings will sich Noda - anders als sein Vorgänger Kan - nicht auf einen kompletten Ausstieg aus der Atomkraft festlegen. Japan sei zumindest noch bis 2030 darauf angewiesen. Um die Stromversorgung kurz- und mittelfristig zu stabilisieren, will Noda abgeschaltete Reaktoren nach bestandenen Stresstests, die sein Vorgänger nach europäischem Vorbild eingeführt hatte, möglichst schnell wieder in Betrieb nehmen. Doch dagegen rührt sich Widerstand im Volk. Am 19. September waren in Tokio laut den Veranstaltern etwa 60 000 Menschen gegen die Atomkraft auf die Straße gegangen, die größte Demonstration seit den 60er Jahren. Ob die Proteste jedoch von Dauer sein werden, bleibt genauso abzuwarten wie die Antwort auf die Frage, wann Japan wieder zur Normalität findet.
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