AKW-Stresstest: Alle europäischen Meiler mit Mängeln
Stand: 05.10.2012
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Brüssel - Wie sicher sind die europäischen Atomkraftwerke? Ein Stresstest, initiiert durch die EU, ging dieser Frage nach. Das Ergebnis: Fast alle Meiler haben Mängel, abgeschaltet werden muss aber keiner. Für die Betreiber hat das milliardenschwere Nachrüstungskosten zur Folge. Auf die Verbraucher könnten damit erneut höhere Strompreise zukommen.
Bei der Sicherheit müssen Europas Kernkraftwerke nachlegen - geschlossen werden müssen sie aber nicht. Das ist die Bilanz eines europaweiten Stresstests, der für fast alle Atommeiler Nachrüstungen empfiehlt. Auch für AKW in Norddeutschland sehen die EU-Experten Handlungsbedarf. Die Betreiber sollten in den Anlagen Erdbebenwarnsysteme installieren, schreiben die Fachleute in dem am Donnerstag in Brüssel vorgelegten Bericht. Für seinen Atommeiler Brokdorf in Schleswig-Holstein will Betreiber E.ON ein solches System einrichten.
Der Test sei "kein Blankoscheck, aber auch kein automatischer Hebel für den Abschaltzwang", sagte EU-Energiekommissar Günther Oettinger. Die EU hatte die Tests als Reaktion auf das Unglück im japanischen Fukushima gestartet. Derzeit setzen 14 von 27 EU-Staaten auf Kernenergie. Umweltschützer und Grüne erneuerten ihre Forderung nach sofortiger Abschaltung aller Kernkraftwerke.
121 Reaktoren benötigen Erdbebenmessgeräte
Die Autoren bemängeln in punkto Erdbebenwarnsysteme sechs Anlagen in Niedersachsen und Schleswig-Holstein, von denen nur noch Brokdorf, Emsland und Grohnde aktiv sind. Betreiber und Experten verweisen darauf, dass kaum noch Anlagen in erdbebengefährdeten Gebieten in Deutschland betrieben werden. So wurde etwa das umstrittene hessische Atomkraftwerk Biblis im erdbebengefährdeten Rheingraben vom Netz genommen. Der Leiter der schleswig-holsteinischen Atomaufsicht, Wolfgang Cloosters, sagte der Nachrichtenagentur dpa, die Abstimmungen mit Brokdorf-Betreiber E.ON liefen schon seit Monaten. Man sei in konstruktiven Gesprächen.
Von den 145 Reaktoren in den EU-Ländern haben laut Bericht quasi alle Lücken. In 121 Reaktoren müssten Erdbebenmessgeräte installiert oder nachgerüstet werden. Bei 32 Reaktoren fehlten Abluftsysteme, um bei einem Unfall den Druck im Reaktorbehälter gefahrlos ablassen zu können. Bei 81 Reaktoren war die Ausrüstung für schwere Unfälle nicht an einem sicheren Ort aufbewahrt und bei 24 Reaktoren fehlte ein Ersatzkontrollraum.
Betreiber erwarten Kosten in Milliardenhöhe
Beim EU-Gipfel am 18./19. Oktober werden sich die Staats- und Regierungschefs mit den Ergebnissen befassen. Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU) versprach in Wien, Schlussfolgerungen aus dem Bericht zu ziehen: "Der Stresstest darf nicht einfach ad acta gelegt werden. Die Ergebnisse müssen Konsequenzen nach sich ziehen."
Auf die Atomanlagenbetreiber in der gesamten EU würden für alle aktiven Meiler Kosten von 10 bis 25 Milliarden Euro zukommen. Brüssel kann allerdings keine Nachrüstungen vorschreiben.
Um auch für Schadensfälle finanziell gewappnet zu sein, sollen sich Betreiber wie E.ON oder RWE versichern - was ebenfalls auf die Strompreise durchschlagen könnte. "Mein Auftrag ist nicht, durch Sicherheitsdumping Kernkraftstrom billig zu machen", sagte Oettinger. Ob die Betreiber die Empfehlungen beachteten, möchte die EU kontrollieren.
Auch Nachbarländer müssen handeln
Altmaier sagte, auch Nachbarländer müssten aktiv werden. Es sei "wenig vermittelbar, wenn Deutschland jetzt noch stark nachrüstet und Frankreich nicht, obwohl die Atomkraftwerke dort noch 20 Jahre in Betrieb sind." Frankreich betreibt 40 Prozent aller AKWs in Europa.
Die Fachleute kritisieren für quasi alle französischen Standorte die Lagerung von Unfallausrüstung und sehen Mängel bei der Prüfung von Erdbeben- und Flutgefahren. Das gilt auch für Frankreichs ältestes Atomkraftwerk Fessenheim direkt am Rhein, das bis Ende 2016 stillgelegt wird.
In Deutschlands westlichem Nachbarland Niederlande weist das AKW in Borssele - wie die meisten französischen Werke - vier Kritikpunkte von der Umsetzung der Leitlinien bis zur Lagerung auf. Wenig zu beanstanden hatten die Experten bei den belgischen Reaktoren in Doel und Tihange.
Mehr Anlass zur Kritik gab es in den ehemaligen Ostblockstaaten Tschechien und Bulgarien, wo bei allen geprüften AKW Schutzvorrichtungen gegen Gasexplosionen nach schweren Unfällen fehlen. Das gilt auch für Rumänien, die Slowakei und Slowenien. Diesen Punkt bemängelt die EU-Kommission auch in Schweden, Spanien und Großbritannien.
Schweden besonders in der Kritik
Besonders schwerwiegende Mängel belegt der EU-Report für zwei Werke - Olkiluoto in Finnland und Forsmark in Schweden -, wo die Betreiber weniger als eine Stunde Zeit haben, um nach einem kompletten Stromausfall und/oder einem Ausfall der Kühlsysteme die Sicherheitssysteme wieder hochzufahren. Schwedens Atomaufsicht wies die Kritik zurück.
Der Greenpeace-Atomexperte Tobias Riedl nannte die Ergebnisse alarmierend. "Bei einer strengeren Überprüfung wäre das Urteil für die meisten Reaktoren vernichtend ausgefallen." So seien die Alterung der Reaktoren und bestimmte Unfallabläufe nicht berücksichtigt worden. Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) forderte den Sofortausstieg aus der Atomkraft.