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London – Auf keinen Fall frühstücken! Diesen Hinweis sollten die Teilnehmer der kulinarischen Tour durch das Londoner East End ernst nehmen. Denn hierbei können Touristen ohne Hemmungen schlemmen: jüdische Spezialitäten, Teigtaschen aus Bangladesch und englische Klassiker.
Denn tatsächlich bieten die Küchen des einstigen Arbeiterviertels ein vielfältiges Angebot vorzüglicher Speisen aus der halben Welt. Da wäre es gedankenlos, den Morgen im seelenlosen Frühstücksraum eines Hotels zu verbringen.
Das East End gilt heute als Trendquartier
Es liegt nordöstlich der Londoner City, dem Finanzzentrum. Seit jeher war es der arme Teil der Stadt. Arbeiter, die in den nahen Docks malochten, lebten hier. Der Westwind trieb die Abgase der Stadt durch die Gassen, das Leben war von Schmutz und Entbehrung geprägt. Hier mordete vor 130 Jahren auch der berühmte Jack the Ripper.
Als jedoch der Kunsthändler Jay Jopling im Jahr 2000 mit seiner Galerie White Cube an den Hoxton Square zog, begann die unaufhaltsame Aufwertung des Londoner Ostens. Heute sind das East End und der In-Stadtteil Shoreditch für ihre Bars, Clubs, Restaurants, Modeläden und insgesamt für eine höchst angesagte Szene bekannt. Liebhaber guten Essens wissen kaum, wo sie anfangen sollen.
Nur eines ist wichtig: "Bleibt auf dem Gehweg niemals stehen, sonst drehen die Leute durch." Diesen Rat gibt Jessica O'Neill, die eine der regelmäßigen Food-Touren durch das East End leitet. Die gebürtige Kanadierin und promovierte Kunsthistorikerin lebt seit sechs Jahren in London. Sie hat wie alle Bewohner der Stadt offenbar keine Zeit zu verlieren, weshalb sie sehr schnell spricht. O'Neill führt die Gäste herum und erzählt von der Geschichte des Viertels.
Erster Snack-Stopp: die Brick Lane, auch Curry-Meile oder Banglatown genannt.
Einwanderer aus Bangladesch und Indien haben an der rund ein Kilometer langen Straße ihre Restaurants. "Arzu" (55 Brick Ln) hat 1986 aufgemacht. Die würzigen Samosas gefüllt mit Lamm oder Spinat (60 Pence) oder die Chicken Tikka Roll (1,50 Pfund) sind derart köstlich, dass einem das süße europäische Frühstück plötzlich wie eine seltsame Geschmacksverirrung vorkommt.
Vier große Wellen von Einwanderern haben das East End geprägt, erklärt O'Neill. Ab 1685 kamen von Ludwig XIV. verfolgte Hugenotten aus Frankreich. Am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich rund 100.000 Aschkenasi an, europäische Juden. Im Zuge des Bangladesch-Krieges 1971 flohen dann viele Muslime aus ihrer Heimat. Sie brachten ihre Gewürze und Rezepte vom indischen Subkontinent mit nach London, vor allem in die Brick Lane.
Und die vierte Welle? O'Neill macht eine Pause. "Die Hipster!" Kein gemeinsamer ethnisch-religiöser Hintergrund vereint die Zugezogenen, eher eine lose Idee von Avantgarde. Zweifellos hinterlassen sie mittlerweile die sichtbarsten Spuren im East End. Der Osten Londons lockt Individualisten und alle, die das gerne wären. Es gilt, die ungezählten Vintage-Läden, Cafés und Flohmärkte zu entdecken. Die Höhepunkte für einkaufende Touristen sind Spitalfields Market, Brick Lane Market und der Vintage-Markt in der Old Truman Brewery.
Zeit für das zweite Frühstück: Halt bei "Beigel Bake" (159 Brick Ln).
Eine Institution, der ihr Ruf vorauseilt. Auf dem Bürgersteig hat sich folglich eine lange Schlange gebildet. Alle stehen an für die koscheren Bagel, die hier im Akkord über den Tresen gehen. Wer an der Reihe ist, sollte wissen, was er will. Empfehlung: der Bagel mit gesalzenem Rindfleisch, Essiggürkchen und Senf. Hervorragend!
Nun darf es zum Ausgleich gerne etwas Süßes sein und dafür ist "Dark Sugars Cocoa House" (124-126 Brick Ln) die richtige Anlaufstelle. Dort werden aus hochwertigem westafrikanischen Kakao feine Kreationen aus Schokolade angerichtet, vor allem Pralinen (100 Gramm für 7 Pfund). Und es gibt Kaffee: Ein Mitarbeiter schabt feine dunkle und weiße Späne von zwei groben Schokoblöcken darauf. Das Getränk schmeckt fast so kalorienreich wie eine kleine Mahlzeit.
Das East End ist der Beweis, dass gerade das Neben- und Miteinander verschiedener Kulturen eine Stadt interessant macht. An der Ecke Fournier Street-Brick Lane steht eines der ältesten Gebäude der Gegend, gebaut 1743. Die heutige Moschee war zunächst eine protestantische Kirche und später eine Synagoge. Ein Zeichen für den Wandel der Nachbarschaft und für ihre Vielfalt.
Bei all den fremdländischen Einflüssen kann man fragen: Was ist mit der englischen Küche? Auch die gibt es im East End natürlich. Letzter Halt der Tour ist "Poppie's Fish & Chips" (6-8 Hanbury St). Den Klassiker gibt es hier traditionell mit Erbsenpüree (Mushy Peas). Kenner wählen noch die Tartar-Soße dazu, eine Art Remoulade. Obendrauf Salz und etwas Essig, fertig. Kein leichtes Gericht, schon gar nicht als vierter und letzter Gang an einem noch nicht allzu späten Samstag.
Die Food-Tour ist zu Ende
Nun ist Zeit, um Imbisse und Restaurants selbstständig zu erkunden, was unbedingt zu empfehlen ist. In den Gassen stößt man stets auf neue Köstlichkeiten. Hinter den eher niedrigen Backsteinhäusern ragen die Wolkenkratzer der Londoner City in den Himmel, eine andere Welt. Jessica O'Neill spitzt die dortige kulinarische Situation folgendermaßen zu: "Es gibt nur Steakhäuser, Lobster-Restaurants und Dom Perignon." Schrecklich langweilig.