Politik in 140 Zeichen: Twitter im Bundestag weit verbreitet
Stand: 09.07.2012
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Berlin - Eine deftige Beschimpfung auf Twitter erregte jüngst die Gemüter: "Ging ja fix mit deinem #Wortbruch, du fettes Lügenschwein!!!". Gerichtet war sie an Bundesumweltminister Peter Altmaier (CDU), weil er zuvor Stromrabatte für Geringverdiener abgelehnt hatte. Wenn es bei Twitter um politische Themen geht, sind es meist Beleidigungen, Rüpeleien oder so genannte Shitstorms (digitale Empörungswellen), die Schlagzeilen machen. Doch zum Glück sind solche Aussetzer der Meinungsbildung 2.0 eher die Ausnahme.
Im kollektiven Gedächtnis verankert bleiben auch Vorfälle wie die Bundespräsidentenwahl 2009, bei der zwei Abgeordnete vorzeitig den Sieg Horst Köhlers in die Welt twitterten. Oder einer der ersten Beiträge (Tweets) von Steffen Seibert, der Anfang 2011 eine Merkel-Reise in die USA verkündete. Viele Journalisten fühlten sich damals vom Regierungssprecher vor den Kopf gestoßen: Die offiziellen - oder besser gesagt exklusiven - Informationskanäle wurden ihrer Meinung nach umgangen. "Müssen wir uns jetzt mit jedem Scheiß beschäftigen?", fragte damals ein Journalist in der Bundespressekonferenz.
Ein Jahr später erscheinen solche Reaktionen fast wie aus einer anderen Zeit. Twitter hat die Politik erobert - und ist dabei, die politische Kommunikation zu verändern. Kein anderes Medium bietet die Möglichkeit zum derart schnellen und direkten Schlagabtausch.
Politiker twittern inzwischen so emsig wie nur wenige andere Berufsgruppen. Mehr als ein Drittel der 620 Bundestagsabgeordneten hat schon einen Account, Tendenz steigend. Besonders aktiv sind nach Angaben der Fraktionen die Grünen: 41 der 68 Abgeordneten twittern. Bei der FDP ist es fast die Hälfte, bei den Linken knapp ein Drittel, von 146 Sozialdemokraten haben immerhin 40 einen Account. Und selbst in der konservativen Unionsfraktion setzen schon 53 von 237 Parlamentariern Tweets ab.
Waren es anfangs häufig blutleere Verweise auf den eigenen Terminkalender oder Presseerklärungen, twittern Politiker immer häufiger zu aktuellen Ereignissen oder Streitthemen. So hatte Altmaier zu Jahresbeginn, noch als parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff aufgefordert, mehr zur Aufklärung der Kredit- und Medienaffäre beizutragen.
"Wünsche mir, dass Christian seine Anwälte an die Leine legt und die Fragen/Antworten ins Netz stellt", schrieb der Vertraute von Bundeskanzlerin Angela Merkel damals, was auch in den klassichen Medien für großes Aufsehen sorgte. Ein persönlicher Twitter-Account der Kanzlerin ist bislang nicht bekannt. Merkel mag es ebenfalls kurz und knapp, bevorzugt aber die privaten SMS-Nachrichten via Mobiltelefon.
Doch auch Landespolitiker, Ministerpräsidenten und Mitglieder der Bundesregierung twittern zunehmend. Regierungssprecher Seibert gibt inzwischen "Twitterviews", Bundestagsabgeordnete begleiten Plenardebatten mit - je nach Parteizugehörigkeit - bissigen bis wohlwollenden Kommentaren. Gezwitschert wird so gut wie immer und überall: auf Parteitagen, in der Dienst-Limousine oder vom heimischen Sofa aus zum TV-Polittalk bei "Günther Jauch".
Für die Bürger ermöglicht Twitter einen direkten Draht zu den Volksvertretern: Wer eine Frage stellt, bekommt oft persönlich Antwort. Viele Abgeordnete tippen ihre Botschaften selbst, einige lassen sich von ihren Mitarbeitern unterstützen. Häufig zeigen Kürzel, wer die Mitteilung verfasst hat. Den Politikern nutzt das: Sie präsentieren, profilieren und positionieren sich. Sie informieren ihre Anhänger und jene, die es werden könnten. Und zeigen sich von einer anderen, privateren Seite.
Die Kommunikation zum Wahlvolk steht aber nicht unbedingt im Vordergrund, sagt Christoph Bieber, Professor für Politikwissenschaft an der Uni Duisburg. Je mehr Abgeordnete den Dienst nutzen, umso häufiger werden aktuelle politische Streitfragen in 140-Zeichen-Tweets diskutiert. "Politiker twittern häufig untereinander, mit Fraktionskollegen und Parteifreunden, aber auch mit politischen Gegnern", sagt Bieber. Diese Äußerungen seien keineswegs immer konfrontativ, sondern durchaus an konstruktiven Diskussionen interessiert. Twitter fungiere in der politischen Kommunikation inzwischen als eine Art Branchenmedium.
"Mit Twitter, aber auch mit Facebook entsteht so etwas wie politische Echtzeitkommunikation", sagt Bieber. Kein Politiker würde während einer Plenarsitzung seine Webseite bearbeiten und dort einen Kommentar einstellen. Über Twitter aber könne man unmittelbar auf das aktuelle Geschehen reagieren - und so Debatten aus dem Parlament heraustragen. Wie gewichtig die Rolle des Kurznachrichten-Dienstes in Zukunft sein wird, lässt sich heute kaum absehen. Sicher scheint: Politiker können sich Twitter nicht mehr entziehen. Und schon gar nicht die Journalisten.
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