Internet und Politik - Die Geschichte einer Annäherung
Stand: 27.12.2011
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Berlin - Seit dem verblüffenden Erfolg der Piraten Partei, dämmert jetzt den etablierten Parteien, dass sie Präsenz im Internet zeigen müssen. "Wenn es ums Internet geht, lernt die deutsche Politik nur durch Schocks", meint der Politologe Christoph Bieber von der Universität Duisburg-Essen. Von solchen Schocks gab es in der vergangenen Zeit einige: Der Staatstrojaner, der Einzug der Piraten ins Berliner Abgeordnetenhaus, die Diskussion um die Online-Enthüller von Wikileaks, der von Facebook und Twitter befeuerte Aufstand in der arabischen Welt und die ebenfalls übers Netz koordinierten Occupy-Bewegung. "Nicht nur im Netz, sondern auch außerhalb ist die Wahrnehmung entstanden, dass das Internet ein wichtiger Raum des Alltagshandelns geworden ist", so Bieber.
Peter Altmaier - der Ober-Twitterer der CDU
Der Piepmatz auf dem Blackberry von Peter Altmaier ist auf den ersten Blick nur ein neues Logo - doch Twitter bedeutet für den Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag weit mehr als eine Veränderung auf dem Handy-Display. Altmaier glaubt, dass sich die "politische Tektonik" verschiebt: "Ich halte den Erwerb von Netzkompetenz mittelfristig für eine Überlebensfrage - für alle Parteien."
Altmaier hat den Kurznachrichten-Dienst erst im September für sich entdeckt - aber seitdem seinen Blick auf das Internet fundamental verändert. Er ist damit nicht allein. Altmaiers Erkundungen stehen beispielhaft für die etablierten Parteien, die 2011 nach den Erfolgen der Piratenpartei plötzlich die Netzpolitik entdeckt haben.
Mobilisierung durchs Netz
Altmaier machte diese Erfahrung nach der Wahl in Berlin. Bei einer Talkshow spät abends um 23.00 Uhr saßen 60 Anhänger der Piraten im Publikum, mobilisiert über den Micro-Blogging-Dienst. Einen Politik-Profi wie Altmaier lässt das nicht kalt. Er meldete sich selbst bei Twitter an, kumpelte mit den Piraten, frotzelte mit den Grünen und der SPD, und antwortete so ziemlich jedem, der ihn per @-Zeichen anschrieb.
Hunderte Tweets später hat Altmaier einen anderen Blick aufs Netz und auf das, was die "Digital Residents", die Netzbewohner, denken. Neben die klassischen Medien sei eine neue Kommunikationsstruktur getreten, sagt er im Gespräch mit der Nachrichtenagentur dpa. "Das Mitwirkungsrecht des Bürgers war früher darauf beschränkt, alle vier Jahre zur Wahl zu gehen oder Mitglied einer Partei zu werden. Heute kann er sich permanent an politischer Kommunikation beteiligen", sagt Altmaier. Das werde die Meinungsbildung in Zukunft verändern. Ein Instrument wie Twitter, da ist sich der Saarländer sicher, werde in Zukunft zu einem "klassischen Arbeitsinstrument für Politiker", ähnlich wie Fax und E-Mail.
Ganz neue Töne - nach 20 Jahren Internet
Zwar gibt es in der Partei Fachleute für Netzpolitik, etwa Peter Tauber und Thomas Jarzombek, die in der Enquete-Kommission Internet und digitale Gesellschaft mitarbeiten. Doch dass ein Mann aus der ersten Reihe die Netzpolitik zum großen Thema ausruft, ist gut 20 Jahre nach Erfindung des World Wide Web tatsächlich ein Novum. Auch in der SPD gibt es etliche Fachleute, aber kaum prominente Vorkämpfer für das Digitale.
Zwar habe das Netz bereits in den vergangenen 10 bis 15 Jahren eine gewisse Rolle in der Politik gespielt, sagt Politologe Bieber - nicht zuletzt in Wahlkampfzeiten. "Aber es hat nicht gereicht, um damit eine parteiinterne Karriere zu starten." Jetzt zeichnet sich ein Umdenken ab. CDU und SPD räumten der Netzpolitik auf den jüngsten Parteitagen mehr Raum ein als bislang.
Netzpolitik als eigener Politikbereich
Auch die kleineren Parteien reagieren, vor allem die Grünen, denen die Piraten viele Wähler abspenstig machen könnten. Für ein deutlicheres Zeichen hält Wissenschaftler Bieber jedoch die Tatsache, dass die schwarz-rote Landesregierung in Berlin nach dem Erfolg der Piratten Netzthemen als eigenen Politikbereich behandelt und in Regierungsstrukturen verankern will. Eine Premiere in Deutschland.
Viele Positionen von CDU und SPD sind aber noch sehr unkonkret. Auf der CDU-Webseite zur Netzpolitik etwa werden komplexe Themen wie Urheberrecht und Netzneutralität in wenigen Absätzen abgehandelt. Und die strittigen Punkte sind oft länger als die eigentliche Position des Arbeitskreises.
Zwischen analoger und digitaler Welt
Das hat auch damit zu tun, dass die Parteien mit ihren erprobten Rezepten oft nicht weiterkommen. "Das Internet ist eine andere Art von Kommunikationsraum, in dem die Regulierung aus dem analogen Bereich nicht mehr funktioniert", sagt Bieber. "Es wird spannend, ob die großen Parteien es schaffen, ihren Wertekanon anzupassen."
Wie schwierig die Diskussion zwischen analoger und digitaler Welt manchmal ist, zeigt die Vorratsdatenspeicherung: Die CDU hält daran fest, auch Peter Altmaier befürwortet sie und bekommt dafür in der Netzgemeinde Prügel. Immerhin: Kürzlich diskutierte er darüber mit dem Netzaktivisten Stephan Urbach, der in der Piratenpartei ist. Verabredet hat man sich: über Twitter.