160 Top-Ökonomen rufen zu Widerstand gegen Euro-Beschlüsse auf
Stand: 05.07.2012
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Berlin - 160 deutschsprachige Ökonomen laufen Sturm gegen die jüngsten Beschlüsse des EU-Gipfels zur Überwindung der Eurokrise. Im einem offenen Brief an die "lieben Mitbürger" rufen die Wirtschaftsprofessoren um Ifo-Chef Hans-Werner Sinn die Bevölkerung auf, die aus ihrer Sicht falschen Beschlüsse nicht mitzutragen, da deutsche Steuerzahler sonst für ausländische Banken mithaften müssten. Auch der Bundesverband der Deutschen Industrie warnte vor Fehlentscheidungen. Kanzlerin Angela Merkel wies die Sorgen zurück.
"Es geht hier überhaupt nicht um irgendwelche zusätzlichen Haftungen", sagte Merkel am Donnerstag in Berlin. Daher sollte sich jeder die Beschlüsse "wirklich gut anschauen und dann auch das berichten, was in diesen Beschlüssen steht". Die Haftungen für Banken seien genauso verboten nach den jetzigen Regelungen wie es die Haftungen für Staaten seien. "Und insoweit hat sich durch die Brüsseler Beschlüsse nichts geändert an der derzeitigen Situation."
Schritt in eine Bankenunion
Die Ökonomen sehen das anders, weil die Beschlüsse bisherige Grenzen überschritten hätten und ein Einfallstor für eine größere Haftung seien. "Die Entscheidungen, zu denen sich die Kanzlerin auf dem Gipfeltreffen der EU-Länder gezwungen sah, waren falsch. Wir (...) sehen den Schritt in die Bankenunion, die eine kollektive Haftung für die Schulden der Banken des Eurosystems bedeutet, mit großer Sorge", heißt es in dem Appell, den das Online-Portal der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" am Donnerstag veröffentlichte.
Mit den Beschlüssen werde nicht der Euro gerettet. Vielmehr würden sie den Gläubigern der Krisenbanken helfen. Das sei der falsche Weg: "Banken müssen scheitern dürfen." Profiteure seien Investoren an der Wall Street oder der Londoner City sowie marode europäische Banken.
Die Staats- und Regierungschefs wollen unter anderem, dass der dauerhafte Krisenfonds ESM - und damit der Steuerzahler - künftig Banken direkt unterstützen kann. Bislang muss das Geld an die Regierung des jeweiligen Landes überwiesen werden. Aber eine Bedingung dafür ist, dass es zunächst eine europäische Bankenaufsicht gibt, die Details sind bisher nicht ausgearbeitet. Deutschland haftet beim ESM bisher mit 190 Milliarden Euro. Wegen Klagen beim Bundesverfassungsgericht liegt er aber vorerst ohnehin auf Eis.
Aber auch Hans-Peter Keitel, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), warnte vehement vor Fehlsteuerungen, Deutschland dürfe bisherige rote Linien nicht aufgeben. "Einen europäischen Bankenrettungsfonds darf es aus Sicht der deutschen Wirtschaft nicht geben", sagte Keitel der Deutschen Presse-Agentur. Gleiches gelte für eine gemeinsame Einlagensicherung, ergänzte er mit Blick auf eine mögliche Haftung deutscher Steuerzahler für die Sparguthaben von Kunden ausländischer Banken.
Keitel betonte, er habe die Verlautbarungen nach dem EU-Gipfel in der vergangenen Woche "mit großer Sorge" aufgenommen. Er räumte allerdings auch ein: "Keiner weiß, wie die Krise wirklich zu lösen ist. Ich jedenfalls habe keinen Königsweg." Zugleich nahm Keitel Merkel in Schutz. Man müsse auch das Kleingedruckte der Beschlüsse lesen, betonte der BDI-Präsident. Dass sich Frankreich bei den Verhandlungen auf die Seite Italiens und Spaniens geschlagen habe, mache deutlich, dass sich Deutschland auf neue Allianzen einstellen müsse. "Die Gewichte haben sich ungut verschoben", sagte Keitel.
Deutschland könnte sich überheben
Die Ökonomen warnen in ihrem Aufruf, Deutschland könne sich überheben. "Die Steuerzahler, Rentner und Sparer der bislang noch soliden Länder Europas dürfen für die Absicherung dieser Schulden nicht in Haftung genommen werden", sagten sie mit Blick auf die Schulden von Banken. Deutschland und die soliden Länder würden gedrängt, ihre Haftungssummen immer weiter auszudehnen: "Streit und Zwietracht mit den Nachbarn sind dann vorprogrammiert. Weder der Euro noch der europäische Gedanke als solcher werden durch die Erweiterung der Haftung auf die Banken gerettet", warnen die Ökonomen.
Der Dortmunder Wirtschaftsstatistiker Walter Krämer hatte den Aufruf zusammen mit Sinn verfasst, der zu den scharfen Kritikern der Euro-Rettungspolitik zählt. Andere Ökonomen äußerten scharfe Kritik und sprachen von einer einseitigen, Euro-kritischen Argumentation. CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe sagte der "Financial Times Deutschland": "Kritiker sollten sich nicht an einem bewussten Zerrbild unserer Politik abarbeiten und Ängste in der Bevölkerung schüren."