Türkischer Staat hat dem Stromklau im Land den Kampf angesagt
Stand: 11.01.2002
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(cs/dpa) "Eigentlich müsste man mit der Polizei durch die Häuser gehen und die elektrischen Öfen einsammeln", erzürnt sich Iskender Bastav, Direktor des staatlichen Stromversorgers TEDAS in der ostanatolischen Stadt Diyarbakir. Innerhalb von 20 Tagen hätten seine Leute 600 Sicherungen in den Trafostationen auswechseln müssen, weil sie dem gestiegenen Verbrauch nicht gewachsen waren. Wer die Verursacher sind, liegt für ihn auf der Hand: Schuld an den Stromausfällen, ausgerechnet im Winter, seien die vielen Haushalte, die sich "schwarz" bedienen.
Um die besonders in Südostanatolien stark ausgeprägte "Selbstbedienungsmentalität" zu brechen, zieht der Staat alle möglichen Register, um den "Sündern" ins Gewissen zu reden. In örtlichen Zeitungen wurden Anzeigen geschaltet, mit denen nachdrücklich auf die Schwere des "Verbrechens" hingewiesen wurde. Wer des Stromdiebstahls überführt und deswegen verurteilt werde, könne nicht zum Abgeordneten, nicht zum Bürgermeister gewählt werden und auch keine anderen öffentlichen Ämter mehr bekleiden. Strom schwarz zu beziehen, sei Diebstahl an öffentlichem Eigentum und daher ein "schändliches" Vergehen.
Doch die Kampagne zielt nicht nur auf das Ehrgefühl der Betroffenen. In Zusammenarbeit mit den religiösen Behörden fand das Thema "Stromklau" auch Einzug in die Moscheen. Vor dem Freitagsgebet wurde den Gläubigen gepredigt, dass Diebstahl gegen die Religion verstoße und damit "Sünde" sei. Das veranlasste Zeki Celik, einen Abgeordneten der islamistischen Saadet-Partei, zu der Anfrage an die Regierung, was ein so "weltliches Ereignis" wie Strom-Diebstahl mit der Religion zu tun habe und ob das Vorgehen nicht gegen den Grundsatz der türkischen Republik verstoße, Politik und Religion zu trennen.
Mit ganz anderen Augen sieht der Wissenschaftler Vural Altin von der Istanbuler Bosporus-Universität das Problem. Der Schwarzverbrauch sei quasi eine staatliche "Subvention" für Bevölkerungsschichten, die wegen geringer Einkommen "keinen Zugang zur Geldwirtschaft haben". In diesem Sinne habe sie gerade im armen Südosten auch die Funktion eines "Sicherheitsventils".
Doch auch im "reichen" Istanbul wird nach schwarzen Schafen gefahndet. Auf seiner Homepage fordert der für die Bosporus-Metropole zuständige Verteiler die Stromkunden unverblümt zum Denunziantentum auf: "Bitte melden Sie uns die Schwarzverbraucher."
"Sollen sie doch kommen und mir den Strom abstellen", kontert ein Händler in einem Istanbuler Gewerbegebiet, dessen Stromrechnung angeblich astronomische Höhen erreicht hat. Er weigere sich, den Strom für die Moschee im Viertel mitzubezahlen, in der Tag und Nacht das Licht brenne.